Im Vorfeld des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ignorierte der Westen, vornehmlich die Bundesrepublik Deutschland, eine Vielzahl an Warnungen (ein Beitrag auf „1600 Pennsylvania“ hat sich ausführlich mit der Thematik beschäftigt, Klick hier). Doch auch US-Präsident Joe Biden beging in seinem ersten Amtsjahr folgenreiche Fehler. Beispielsweise hob er einerseits den Widerstand gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland direkt nach Deutschland auf.
Andererseits wertete Präsident Biden, ähnlich seinem Vorgänger, seinen russischen Amtskollegen Vladimir Putin unnötig auf wie auch Leonid Wolkow in seinem Buch „Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens.“ treffend feststellt:
Nach dem Giftgasanschlag auf Nawalny war Putin politisch in Isolation geraten, seinem nächsten Umkreis waren empfindliche Sanktionen auferlegt worden, ihm selbst drohten weitgehende Ermittlungen durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. Was tat Putin daraufhin? Er verlegte ein paar Truppeneinheiten an die ukrainische Grenze, inszenierte eindrucksvoll Vorbereitungen zum Krieg, und schon wendete sich das Blatt um 180 Grad, schon rief US-Präsident Biden bei ihm an und lud ihn zum Gipfeltreffen nach Genf ein (…)“
Leonid Wolkow: Putinland, S. 134f.
In seinem 233 Seiten starken und in der deutschsprachigen Ausgabe im Droemer Verlag erschienen Werk verbindet Wolkow solche Analysen über die westliche Russland-Politik mit den Erfahrungen während seiner Tätigkeiten in der russischen Opposition. Herausgekommen ist ein Werk, welches einen guten Einblick in die Sichtweise eines ehemaligen in Russland ansässigen politischen Aktivisten gibt.
Ehemalig, da für Wolkow als einstigen Leiter der Kampagne von Alexei Nawalny zur Bürgermeisterwahl in Moskau 2013 und als politischer Direktor der Antikorruptionsstiftung FBK kein Platz mehr im autoritären Russland war. Seit 2019 lebt Wolkow nun schon im litauischen Exil. Die verständliche Verbitterung gegenüber diesen Zustand und den mangelnden positiven Veränderungen in Russland kann Wolkow in seinem Buch nicht verbergen. Vor diesem Hintergrund bezeichnet er Putin unter anderem als:
(…) blassen politischen Emporkömmling (…)
Wolkow: Putinland, S. 14
oder beschreibt den Kreml-Herrscher mit den Worten:
(…) was für ein armseliger und lächerlicher Mensch Russlands Präsident ist.
Wolkow: Putinland, S. 10
Ich halte Präsident Putin nicht für besonders klug oder gebildet (…)
Wolkow: Putinland, S. 34
Um eine Person oder ein System politisch zu bekämpfen, sollte diese/s jedoch nicht unterschätzt werden. Immerhin ist Putin seit dem Jahr 2000 der mit Abstand mächtigste Mann Russlands. Seine Macht konnte der ehemalige KGB-Agent stetig ausbauen, auch weil Putin und dessen Entourage oftmals mehrere Schritte im Voraus dachten. In Bezug auf die Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik sei an dieser Stelle auch auf die Einflussnahme auf den Energiesektor Deutschlands durch die Nord Stream Pipelines erinnert.
Catherine Belton analysiert in ihrem sehr lesenwerten Werk „Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“ detailliert den Aufstieg Putins, zu dem eine jahrelange Vorbereitung dazugehörte. Die britische Investigativjournalistin widerspricht damit den Thesen Wolkows. Dem Geschichtsbild Wolkows würde Belton wohl ebenso widersprechen, blendet dieses doch Russlands imperialistische Vergangenheit im Zarenreich sowie unter der Sowjet-Diktatur aus.
Nawalny und seine Mitstreiter, zu denen auch Wolkow gehört, werden in Deutschland oftmals als die Hoffnung auf ein demokratisches, liberales Russland dargestellt. Berechtigte Bedenken über diese hehren Ziele begegnet Wolkow mit dem Totschlagargument der „reinen Russophobie“ (Wolkow: Putinland, S. 15).
Vielmehr lässt das Werk „Putinland“ durchblicken, dass auch bei den prominentesten Akteuren, die sich gegen Putins Herrschaft einsetzen, ein imperialistisches Gedankengut mitschwingt. Ähnlich früheren und aktueller russischer Führer bedient sich Wolkow zudem auch bei Nawalny dem Narrativ der grenzenlosen Erhöhung. Als Exemplifizierung dient Wolkows Beschreibung von Nawalnys Rückkehr in die Russische Föderation nachdem dieser einen Giftanschlag überlebte:
Nawalnys Rückkehr nach Russland hatte geradezu biblische Dimensionen. Wie der mythische Phönix aus der Asche war er wiederauferstanden, er war unversehrt und stärker als je zuvor.
Wolkow: Putinland, S. 126
Kurz darauf wurde Nawalny inhaftiert. Doch ebenso wie diese Rückkehr wartet auch Wolkow mit Naivität auf:
Aber Nawalny hatte noch einen Trumpf im Ärmel. Sein Team hatte (…) an einem Dokumentarfilm über Putins gigantischen Palast am Schwarzen Meer gearbeitet (…)
Wolkow: Putinland, S. 126
An den Machtstrukturen hat dies freilich nichts geändert. Erwähnt sei außerdem, dass Nawalny die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 nicht verurteilte und diese, sofern er Präsident wäre, auch nicht zwingend zurückgeben würde. Ein weiteres Referendum solle laut Nawalny über den Status der Krim entscheiden, welches freilich auf Grund der von Moskau forcierten veränderten Bevölkerungsstruktur eine weitere Farce wäre. 2008 forderte Nawalny gar die russische Besetzung des gesamten georgischen Territoriums.
Russlands imperialer Wahn geht also nicht nur auf „Putinland“ zurück, wie Nawalnys Mitstreiter Wolkow in seinem Buch behauptet. Unterstrichen wird dies zudem, dass auch nach dem ersten Kriegsjahr drei Viertel der russischen Bevölkerung die Invasion der Ukraine unterstützen (Hintergründe Klick hier).
Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass „Putinland“ von Leonid Wolkow auf Grund dessen Befangenheit, Naivität und Sozialisation deutliche Schwächen im Hinblick auf Analysen der Ära Putin aufweist. Die Stärken, welche der Autor in Bezug auf die Beschreibung seiner persönlichen Erfahrungen während seiner Zeit als Aktivist in Russland sowie hinsichtlich der Beurteilung westlicher Russland-Politik aufweist, werden so konterkariert.
Vielen Dank an den Droemer Verlag für die Zusendung eines Rezensionsexemplars.
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Die offizielle Buchbeschreibung
Unter Putin hat sich Russland zu einer imperialistischen Diktatur verwandelt, die die Werte und das Lebensmodell des Westens bedroht. Wie das passiert ist und warum Europa es bis zuletzt ignoriert hat – das analysiert Leonid Wolkow, ein enger Vertrauter des inhaftierten Dissidenten Alexei Nawalny. Anhand persönlicher Erfahrungen im Kampf gegen Korruption und Willkürherrschaft legt er die brutale imperialistische Dynamik in Putins Reich offen und zeigt, was man in Deutschland und Europa nicht wahrhaben wollte. Wer Russland, Putin und den Angriffskrieg gegen die Ukraine verstehen will, kommt an seiner brisanten Analyse nicht vorbei.
„Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens.“ (Leonid Wolkow)

Bildquellen: Creative-Commons-Lizenzen (via Google); Canva.com; Droemer Verlag; eigene Grafiken.
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