Würden Deutsche über das Bundesverfassungsgericht befragt werden, wohl die wenigsten Personen könnten den Namen zumindest eines Richters nennen. Stephan Harbarth, Gabriele Britz oder Ulrich Maidowski sind dann doch eher Insidern ein Begriff.
Anders in den USA. Richter am Supreme Court, wie der Oberste Gerichtshof in den Vereinigten Staaten genannt wird, sind den US-Amerikanern weitaus häufiger ein Begriff. Richterinnen wie Ruth Bader Ginsburg kennen sogar politisch Interessierte in Deutschland. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass Bader Ginsburg mit ihrem Einsatz für Frauen- und Bürgerrechte ein eigenständiges Profil in der ansonsten so staubig anmutenden Judikative entwickelte.
Die am 18. September 2020 im Alter von 87 Jahren verstorbene RBG, wie Ruth Bader Ginsburg in Kurzform genannt wurde, war eine Legende, eine Ikone des liberalen Amerika. Gerade deswegen wird der Streit um ihre Nachfolge im Supreme Court, der in letzter Instanz über alle umstrittenen Fragen entscheidet, episch werden.
Epischer Kampf um Nachfolge
Noch nicht einmal beigesetzt, ist der Kampf um die bestehende Vakanz am Obersten Gerichtshof schon entbrannt. Auf Grund der gegenwärtigen Machtverhältnisse am Supreme Court, fünf Richter wurden von republikanischen Präsidenten nominiert, drei Richter wiederum von Präsidenten mit demokratischem Parteibuch, geht es für die Parteien um viel.
Für die Republikanische Partei ergibt sich die einmalige Chance den Obersten Gerichtshof auf Jahrzehnte im Sinne des Konservatismus zu verändern. Für Demokraten geht es um die Aufrechterhaltung des Status Quo. Der von Präsident George W. Bush nominierte Chief Justice John Roberts votierte nicht selten bei sensiblen Fragen mit den von demokratischen Präsidenten vorgeschlagenen Richtern. Die Balance zwischen konservativem und liberalem Amerika wurde folglich gehalten.
Wird Nachfolge noch in dieser Legislaturperiode geregelt?
Geht es nach der Republikanischen Partei, soll der U.S. Senat über die Nachfolge noch in dieser Legislaturperiode entscheiden. Bevor es dazu kommt, muss der Präsident einen Kandidaten vorschlagen. Ein Vorgang, wie ihn die Verfassung vorsieht – egal zu welchem Zeitpunkt der Präsidentschaft.
Bis zum Ableben von RBG gab es 29 Vakanzen am Supreme Court während des Wahljahres. Der Präsident nominierte in allen 29 Fällen einen Nachfolger.
Da der Bestätigungsprozess von neuen Richtern am Supreme Court durchschnittlich 70 Tage benötigt, die Präsidentschafts- und Kongresswahlen finden in weniger als 45 Tagen statt, gilt ein Votum vor dem Wahltag als unwahrscheinlich. Eine Abstimmung zwischen der Präsidentschaftswahl und der Amtseinführung des neuen oder alten Präsidenten am 20. Januar 2021 gilt am wahrscheinlichsten.
Doppelmoral offenbart sich
Der Zeitpunkt des Ablebens von Bader Ginsburg birgt somit eine weitere Brisanz – und legt die Doppelmoral in beiden Parteien zu Tage. Als im Februar des Präsidentschaftswahljahres 2016 der konservative Richter Antonin Scalia verstarb, verweigerte der republikanisch dominierte U.S. Senat dem von Präsident Barack Obama nominierten Merrick Garland nicht nur das Votum, sondern sogar die Anhörung. Die Begründung des Senatsmehrheitsführers Mitch McConnell: die anstehende Wahl.
Der republikanische Senator Lindsey Graham sprach 2016 zudem davon, dass die Verzögerung der Abstimmung über die Besetzung eines Richterpostens „die neue Regel“ sei: „Meine Worte können gegen mich verwendet werden.“ Vier Jahre später kommen diese Worte wie ein Bumerang zu Graham zurück, denn von den damaligen Aussagen hat sich der Senator mittlerweile distanziert.
Kommt es zu einer Vakanz am Supreme Court während eines Wahljahres und der amtierende Präsident gehört einer anderen Partei an als die führende Fraktion im U.S. Senat, werden historisch gesehen in der Regel Nominierungen abgelehnt.
Solch Doppelmoral ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der Republikanischen Partei. Als 2016 Präsident Obama seinen Vorschlag für den Supreme Court unterbreitete, begründete er dies mit eben jenen verfassungsrechtlichen Kompetenzen. Vier Jahre später argumentiert Obama wie Mitch McConnell 2016. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen 2016 und 2020: Präsident Trump hat eine Mehrheit im U.S. Senat hinter sich, bei Präsident Obama war dies nicht der Fall.
Wenig überraschend ist Präsidentschaftskandidat Joe Biden der gleichen Meinung wie Obama: „Das Volk entscheidet über den nächsten Präsidenten. Dieser wiederum nominiert einen neuen Richter.“ Bei dieser Aussage schwingt sicherlich die Hoffnung mit, dass Bidens Partei die Mehrheit im U.S. Senat zurückgewinnt, hat diese Kammer doch das letzte Wort bei Richternominierungen.
Es ist offensichtlich, dass der Grund des Meinungsumschwungs der Politiker darin liegt, dass sich die Vorzeichen in Bezug auf die Nominierung eines Richterpostens am Obersten Gerichtshof im Vergleich zu 2016 schlichtweg umgekehrt haben. Dass vor diesen Hintergründen der U.S. Kongress eine konstante Zustimmungsquote von lediglich 20 Prozent inne hat, ist wenig verwunderlich. Es ist ebenjene Verlogenheit der politischen Klasse, die eine Präsidentschaft des politischen Außenseiters und politisch inkorrekt auftretenden Donald Trump erst ermöglichte.
Mitentscheidendes Wahlkampfthema
Für Präsident Trump ist die Besetzung des vakanten Richterpostens vor der Wahl indes die zweitbeste Lösung. Die beste Lösung wäre für den Amtsinhaber die Blockierung seines Vorschlags durch die Demokratische Partei – und in einem engen Wiederwahlkampf befindende republikanische Senatoren. Das konservative Amerika würde hierdurch massiv für die anstehenden Wahlen mobilisiert werden. Einige republikanische Senatoren versprechen sich allerdings durch ein Votum vor der Wahl die demokratische Basis zu demobilisieren – eine fragliche Strategie.
Andersherum könnte das liberale Amerika an die Wahlurnen strömen, um solche Entscheidungen zukünftig in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Bevölkerung ist zudem liberaler eingestellt als so mancher Richtervorschlag der Republikaner. Sollte sich die Republikanische Partei jedoch mit ihrem Vorschlag für die Nachfolge von Ruth Bader Ginsburg durchsetzen, kann ihnen der Ausgang der Präsidentschaftswahl nahezu zweitrangig sein.
Denn insbesondere gesellschaftspolitische Anliegen würde der Supreme Court wohl vermehrt in ihrem Sinne entscheiden. Wäre da nicht die Idee des Bruchs aller Regeln von Seiten der Demokraten. Diese denken offen darüber nach, bei Wiedererlangung der Mehrheit im U.S. Senat die Richteranzahl im Supreme Court einfach aufzustocken, um in der Judikative ihre Interessen in der Mehrheit zu wissen.
Schon in der Ära Obama änderten Demokraten die Regel bei der Besetzung von Richtern auf unteren Ebenen. Seitdem reicht eine einfache Mehrheit im U.S. Senat zur Bestätigung von Nominierungen aus. Ironischerweise profitierten Republikaner von dieser Regeländerung und installierten unter Präsident Trump so viele neue Richter wie zuletzt die Administration von Präsident Jimmy Carter Ende der 1970er Jahre.
Die Judikative wird vom Capitol Hill aus vermehrt politisiert. Gleichwohl ist festzuhalten, dass der Supreme Court seine Entscheidungen weiterhin unabhängig tätigt wie nicht zuletzt einige Urteile gegen die Trump-Administration in diesem Jahr zeigten. Folgerichtig erfreut sich die Judikative auch der größten Beliebtheit seit 2009. Dass der Besetzungsprozess von Richtern immer stärker politisiert wird, ist dennoch bedenkenswert. Vielleicht sagt es auch etwas über die positive Rolle des Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik Deutschland aus, dass Deutsche dessen Richter kaum beim Namen kennen.
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