Ukraine-Krieg: Ignorierte Warnungen

Weil niemand von uns gedacht hat, dass auf europäischem Boden jemals wieder Krieg geführt wird, ist es eben nicht so einfach, zu sagen, jetzt schickt man schweres Gerät in die Ukraine.

Annalena Baerbock, Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland, im Interview mit BR24 am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz 2023.

Mit dieser Aussage unterstrich Außenministerin Baerbock nicht nur die naive sicherheitspolitische Position der Bundesrepublik Deutschland der vergangenen Jahrzehnte, die teils bis heute anhält. Sie stellte hiermit ebenso eine verengte westeuropäische Sichtweise zur Schau. Der Osten Europas wird nämlich unentwegt von Russland bedroht.

Russland führt seit Jahrzehnten Krieg

Seit dem Jahr 2014 führen russische Soldaten Krieg im Donbas, um diesen aus der Ukraine herauszulösen und in die Russische Föderation völkerrechtswidrig einzugliedern. Die ukrainische Krim wurde schon annektiert. Sechs Jahre zuvor kam es zum Kaukasuskrieg, als die russische Armee die international nicht anerkannten Republiken Südossetien und Abchasien gegen Georgien unterstützte. Zuvor vergab Moskau, wie später in der Ostukraine, russische Staatsbürgerschaften an die eigentlich zu Georgien gehörenden Südossetier und Abchasier.

Zwischen den Jahren 1999 und 2009 dauerte der Zweite Tschetschenienkrieg an, welcher sich an den Ersten Tschetschenienkrieg zwischen 1994 und 1996 anschloss. Zwischen 50.000 und 90.000 Zivilisten und Soldaten wurden getötet. Moskau installierte nach einem militärischen Erfolg, bei dem unter anderem Grosny komplett zerstört wurde, Achmad Kadyrow als Präsidenten der autonomen Republik der Russischen Föderation. Nach der Tötung von Achmad folgte dessen Sohn Ramsan Kadyrow nach. Gegenwärtig führt Kadyrow eigene Einheiten beim Ukraine-Feldzug Russlands an.

Auf europäischem Boden herrscht folglich nicht erst seit dem 24. Februar 2022 wieder Krieg. Der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine stellt lediglich die Intensivierung der imperialistischen Bestrebungen Moskaus dar. Der Kreml hat mehrmals klargestellt die ukrainische Nation, Sprache, Kultur und generell das ukrainische Volk zerstören zu wollen. Gleichwohl führende Politiker aus den USA jahrelang vor solch einem Szenario warnten, war es doch insbesondere Deutschland, welches sich aus ökonomischen und ideologischen Gründen gegen die Anerkennung der herausfordernden Realitäten strebte.

2008: Bush plädiert für NATO-Mitgliedschaft der Ukraine

Die USA unter Präsident George W. Bush wollten im Jahr 2008 die Ukraine und Georgien in den Membership Action Plan, welcher letztendlich zu einer NATO-Mitgliedschaft geführt hätte, aufnehmen. Der Plan scheiterte jedoch am Widerstand der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU). 14 Jahre später hat die Ukraine offiziell einen Antrag auf Mitgliedschaft im Nordatlantischen Verteidigungsbündnis gestellt. Eine frühere Aufnahme in die NATO hätte der Ukraine die nötigen realen Sicherheitsgarantien gegenüber einer russischen Invasion gegeben.

2012: Romney sieht Russland als größte Bedrohung

Im Rahmen des Wahlkampfes teilte der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney im März 2012 bei Wolf Blitzer auf CNN seine Auffassung mit, dass „Russland (…) ohne Frage, unser geopolitischer Gegner Nummer eins“ sei. Der demokratische Amtsinhaber Barack Obama kritisierte Romneys Position ebenso wie deutschsprachige Medien. Das Hamburger Abendblatt schrieb beispielsweise über das Duell um das Weiße Haus, dass Obama „als Friedenstaube, Romney als aggressiver Falke“ erscheinen würde (29.10.2012). 

Obamas Neustart mit Russland scheiterte bekanntlich. Nur zwei Jahre nach der Präsidentschaftswahl 2012 annektierte Russland die ukrainische Krim und begann den Krieg im Donbas. Dabei hätte Präsident Obama, wie Romney, die Expansionsbestrebungen des russischen Präsidenten Vladimir Putin, der eine Nostalgie nach der alten Sowjetunion mit den Großmachtfantasien des Zarenreichs verbindet, erahnen können, ja müssen.

Denn schon im Jahr 2005 hatte Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Drei Jahre später ließ Putin seinen Worten Taten folgen und marschierte, wie oben schon erwähnt, in Georgien ein. 

Der Beitrag „Vor zehn Jahren hatte Mitt Romney eine Vorahnung“ hat sich mit dem Thema ausführlich beschäftigt (Klick hier).

2014: McCain prognostiziert russische Invasion der Ukraine

Nach der illegalen Annexion der Krim sagte im Jahr 2014 John McCain, republikanischer Präsidentschaftskandidat 2008 und zum damaligen Zeitpunkt U.S. Senator, voraus, dass Putin in einem nächsten Schritt mindestens die Ostukraine einverleiben würde, um eine Landverbindung zur Krim herzustellen.

Laut McCain sei Putins Ambition die Wiederherstellung des alten Russischen Reichs, so dass neben der Ukraine auch die Republik Moldau sowie die baltischen Staaten vor einer russischen Invasion nicht geschützt seien. Infolgedessen konnte auch das Minsker Friedensabkommen (Minsk II), welches insbesondere von Deutschland und Frankreich forciert wurde, nicht erfolgreich sein.

Seit 2014: USA drängen auf Erhöhung der Verteidigungsausgaben

Die NATO-Mitgliedsländer vereinbarten gemeinsam auf ihrem Gipfel in der tschechischen Hauptstadt Prag im Jahr 2002 zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben, um für mögliche zukünftige sicherheitspolitische Herausforderungen abwehrbereit zu sein. Beim NATO-Gipfel in Wales 2014 wurde noch einmal konkretisiert festgeschrieben, dass die Mitgliedsländer „darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen“.

Nachdem insbesondere Deutschland dieser Vereinbarung nicht folgte, versuchte Präsident Obama mit einer wohlfühlenden, Präsident Donald Trump mit einer rustikaleren und Präsident Joe Biden mit einer klassisch diplomatischen Art, Berlin doch noch zu einem Umdenken zu bewegen. Erst der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 brachte Bewegung in die deutsche Verteidigungspolitik. Doch das von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete große Wort der „Zeitenwende“ wartet weiterhin darauf mit expliziten Taten und Inhalten gefüllt zu werden.

Ab 2014: Obama und Trump warnen vor Abhängigkeit von russischen Energieträgern

Die energiepolitische Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland wurde während der Kanzlerschaften von Gerhard Schröder (SPD) und Dr. Merkel, entgegen dem Protest osteuropäischer Länder, stark ausgebaut. Die USA warnten daraufhin von einer gefährlichen Abhängigkeit, da Russland ein sicherheitspolitisches Risiko darstellen würde. Deutschland nahm diese Warnungen freilich nicht ernst.

Präsident Obama bot Dr. Merkel an, LNG-Terminals zu errichten, damit die Abhängigkeit von russischem Gas minimiert werden könnte. Die Bundeskanzlerin lehnte ab. Erst nach anhaltendem Druck durch Präsident Trump entschied sich Bundeskanzlerin Dr. Merkel Ende 2018 für die Förderung des Baus von Terminals für Flüssiggas. Und dennoch passierte zunächst nichts.

Zuvor lachte die deutsche Delegation um Außenminister Heiko Maas (SPD) und Christoph Heusgen, damals Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen und heute Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, den US-Präsidenten sogar bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung zu dessen Ausführungen über die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas öffentlichkeitswirksam aus (siehe Video).

Erst mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine reagierte Deutschland und baute eigene LNG-Terminals. Zwei solcher Terminals konnten innerhalb eines Jahres in Betrieb gehen, weitere sind in Planung. Die Kosten für diese späte Entscheidung und die mangelnde Diversifizierung bei Gasimporten zahlt jedoch der Verbraucher.

2018: Bolton warnt vor russischen Expansionsbestrebungen

Auch John Bolton, ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater von Donald Trump, warnte schon vor Jahren vor den russischen Expansionsbestrebungen. Bolton sah beispielsweise frühzeitig die territoriale Integrität und Souveränität der Republik Belarus unter einer enormen Bedrohung durch den russischen Imperialismus ausgesetzt.

Westliche Sanktionen gegenüber den belarusischen Diktator Alexander Lukashenko seien vor diesem Hintergrund laut Bolton kontraproduktiv, würden diese das Regime in Minsk doch wieder näher an Moskau heranführen. Russland würde hierdurch seinem Ziel, die Republik Belarus zu übernehmen, näherbringen. Im Februar 2023 wurde sodann ein Geheimdokument veröffentlicht, welche die Pläne einer schleichenden Annexion der Republik Belarus durch Russland bestätigt.

Gehört wurden Boltons Warnungen, insbesondere von den West- und Mitteleuropäern, freilich nicht. Es folgte die russische Invasion der Ukraine auch über belarusisches Staatsgebiet. Diktator Lukashenko blieb letztendlich keine andere Wahl, als sein Territorium der russischen Armee zur Verfügung zu stellen, da er keinen Ausweg mehr nach Westen hatte. Nach der Annexion der Krim 2014 sah dies noch anders aus, unternahm Lukashenko doch einiges, um von Russland auf Abstand zu gehen.

Der Beitrag „Boltons ungehörte Warnung“ wartet mit weiteren Hintergründen zur Thematik auf (Klick hier).

2023: Rice und Gates warnen vor Verhandlungen

Condoleezza Rice und Robert Gates, ehemalige Minister für Äußeres und Verteidigung, wiesen in einem Gastbeitrag für The Washington Post darauf hin, dass Putin weiterhin die gesamte Ukraine unter russische Kontrolle bringen will, um das Russische Reich auferstehen zu lassen. Eine Waffenruhe oder sogar teilweise Abgabe von ukrainischen Gebieten an Russland würde dem Kreml nur Zeit zu einer späteren erneuten Offensive verschaffen.

Da eine Niederlage keine Option sei, plädierten Rice und Gates für die Lieferung von schwereren Waffen, die zudem schneller geliefert werden müssten. Darunter sollten sich auch Raketen mit einer längeren Reichweite und Drohnen befinden. Die mittel- und westeuropäischen Länder treten dennoch weiter auf die Bremse. 

Der Gastbeitrag ist im Original auf der Website von The Washington Post nachzulesen (Klick hier).

Zeitenwende herrscht, wenn alte Denkmuster wegfallen

Erst wenn insbesondere in Mittel- und Westeuropa aus vergangenen Fehleinschätzungen gelernt, aus ängstlichen Verhaltensweisen entstandene Schwächen sowie ein in Teilen vorherrschender Anti-Amerikanismus abgelegt und die daraus nötigen Konsequenzen gezogen werden, ist ein nachhaltiger und langfristiger Frieden in Europa möglich. Ein erster Schritt ist hierbei die naive Haltung abzulegen, dass es sich in der Ukraine lediglich um „Putins Krieg“ handeln würde. Im eingangs erwähnten Interview sprach Außenministerin Baerbock beispielsweise davon, dass alleine der „russische Präsident (…) Morden“ würde.

Vielmehr ist es ein tief im Gedankengut der russischen Bevölkerung verwurzelter historisch gewachsener Imperialismus, der zum größten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit Ende des Zweiten Weltkriegs geführt hat. Im Gegensatz zu den europäischen Mächten Deutschland, Frankreich und Großbritannien wurde Russland nämlich nie von seinen imperialistischen Bestrebungen geheilt. 

Eine stabile Mehrheit von 75 Prozent der Russen unterstützt infolgedessen auch nach einem Jahr weiterhin den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Putins Zustimmungswerte stiegen laut dem unabhängigen Levada Institut signifikant an: 82 Prozent der Russen beurteilten im Januar 2023 die Arbeit ihres Präsidenten als positiv.

Die Ukraine ist nur der Anfang. Wenn wir fallen, werden wir nicht die Ersten und nicht die Letzten sein.

Wladimir Klitschko im Interview bei Sandra Maischberger am 22.02.2023 (siehe untenstehendes Video)

Expansionsbestrebungen Russlands sind zudem keine Erfindung Putins, unterjochte Moskau doch schon unter der roten Flagge der Sowjetunion die osteuropäischen Länder und bedrohte seine Nachbarn unter Führung des Zaren. Politisch Verantwortliche wären gut beraten, sich an den Worten des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck zu orientieren, als dieser in einem Interview mit Zeit Online folgende weise Worte von sich gab:

Wir sollten aufhören mit dem Wunschdenken, Russland sei durch Freundlichkeit zu beeindrucken.

In genau diese Kerbe stoß auch Lloyd Austin, als er die Kriegsziele klar definierte. Laut dem US-Verteidigungsminister müsste Russland bei seinem Angriffskrieg auf die Ukraine so stark geschwächt werden, dass es über Jahrzehnte seine Nachbarn nicht mehr bedrohen könne. Bleibt zu hoffen, dass die West- und Mitteleuropäer zumindest diese Mitteilung aus Übersee erfasst und verstanden haben sowie danach handeln werden. Die erfolgreiche militärische Verschiebung von Grenzen wäre nämlich die Öffnung der Büchse der Pandora, Europa würde in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückversetzt werden.

Bildquellen: Creative-Commons-Lizenzen (via Google); Canva.com; eigene Grafiken.
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Präsident Biden und Europa – Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Amerika ist zurück auf der Weltbühne. Ein verlässlicher Partner für befreundete Länder. Eine ordnende Kraft, welche autoritäre Staaten in ihre Schranken verweist. So ähnlich dürfte Präsident Joe Biden das Bild seiner außen- und sicherheitspolitischen Zielsetzung beschreiben. 

Doch ein Jahr nach Amtsantritt ist Präsident Biden davon weiter entfernt denn je. Freilich hat sich die öffentliche Rhetorik auf der internationalen Bühne verbessert. Die USA zeigen sich weitestgehend wieder von ihrer verlässlicheren Seite mit einem klaren Kompass, der eindeutig zwischen „gut“ und „böse“ unterscheidet. 

Sind die USA wirklich zurück auf der Weltbühne?

Doch bei tiefergehender Betrachtung zeigen sich zumindest im Hinblick auf die transatlantischen Beziehungen weiterhin einige Fragezeichen. Da sind einerseits sicherheitspolitische Alleingänge der Biden-Administration, welche bestehende Freundschaften belasten. So verkündeten im September vergangenen Jahres die USA, Australien und Großbritannien ein neues gemeinsames Sicherheitsbündnis im Indopazifik. Die Verbündeten wurden darüber vorweg nicht in Kenntnis gesetzt. 

Daran knüpfte eine Vereinbarung zwischen den USA und Australien zum Bau für Atom-U-Boote an. Frankreich, welches zunächst den Zuschlag zum Bau solcher U-Boote erhielt, blieb nun außen vor. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Washington D.C. und Paris wurden auf einmal so stark belastet wie seit Jahrzehnten nicht mehr. 

Dass die Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa auch unter Präsident Biden nicht reibungslos verläuft, zeigte sich andererseits auch beim Abzug aus Afghanistan. Die Vereinigten Staaten stimmten sich ungenügend mit ihren Alliierten ab, es folgte das größte sicherheitspolitische Desaster für die westliche Welt seit dem Vietnamkrieg. Nicht die Entscheidung des Abzugs, sondern des wie wurde folgerichtig hinterfragt. Präsident Biden verlor fortan Vertrauen bei seinem eigenem Militär und bei Verbündeten. 

Ehemaliger Verteidigungsminister hinterfragt Bidens Kompetenz

Schon Robert Gates, Verteidigungsminister unter dem republikanischen Präsidenten George W. Bush und dem demokratischen Commander-in-Chief Barack Obama, führte in seinen Memoiren an, dass Biden „in so ziemlich allen wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten der vergangenen vier Jahrzehnte falsch lag“.

Gates unterstrich seine Aussage im Mai 2019 bei Face The Nation im TV-Sender CBS. Er führte dabei Bidens Einstellung gegenüber der erfolgreichen Operation zur Ergreifung/ Ermordung von Osama bin Laden an, die der damalige Vizepräsident als zu gefährlich beurteilte. Ebenso verwies Gates auf Bidens Skepsis bezüglich einer aktiveren Teilnahme am Syrienkrieg. Infolgedessen hielten sich die USA zurück, es trat ein Machtvakuum auf, in welches Russland trat. 

Gates unterstellte Biden ganz allgemein eine schlechte Beziehung zum US-Militär, welchem der 46. US-Präsident nicht vertrauen würde. Diesbezüglich stellt sich die Frage, in wie weit Biden durch die Erfahrungen seines mittlerweile verstorbenen Sohnes Beau, der unter anderem im Irak diente, beeinflusst wurde. An der formalen Qualifikation zur Beurteilung außen- und sicherheitspolitischer Sachverhalte dürften indes bei Präsident Biden keine Fragen aufkommen. 

Als U.S. Senator stand Biden schließlich zwölf Jahre dem Auswärtigen Ausschuss vor. Eine Erfahrung, die ihn bestmöglich auf die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen eines US-Präsidenten vorbereiten hätte müssen. Doch dafür müssten einstige falsche Einschätzungen eingestanden und daraus gelernt werden sowie eine gewisse Offenheit für neue Lösungsansätze bestehen. Ob dies bei Präsident Biden der Fall ist, wird die Historie zu urteilen wissen. 

Entscheiden USA über Europäer hinweg?

Währenddessen erreichte Russland mit seinem Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine sein erstes Etappenziel: Präsident Biden und dessen russischer Amtskollege Vladimir Putin sprechen wieder vermehrt miteinander. Alleine im Dezember 2021 diskutierten beide Staatschefs zweimal über die Ukraine, Osteuropa und Atomwaffenkontrolle. Es folgten diplomatische Gespräche zwischen den beiden Ländern im Januar. Russland darf sich seitdem wieder als großer Spieler in der Weltpolitik fühlen. 

Gleichwohl die US-Administration beteuerte, nicht über den Köpfen der Europäer über Europa entscheiden zu wollen, nahm man dies insbesondere in Kiew und Berlin anders wahr. Die Gefahr einer Aufteilung der Einflusssphären in Europa nach dem Vorbild der Jalta-Konferenz war bei nicht wenigen politischen Beobachtern auf einmal ganz real. Zum oben genannten Lernprozess für Präsident Biden gehört folglich auch die Kommunikation zu verbündeten Nationen zu verbessern. 

In der Russland-Politik gab Präsident Biden indes ohne jede Not seine wichtigsten Trümpfe aus der Hand. Schon vor oben genannter Intensivierung der russisch-amerikanischen Gespräche wurde, trotz vermehrter russischer Aggression in Osteuropa, einem persönlichen Treffen zwischen Präsident Biden und Präsident Putin in Genf, Schweiz, im Juni 2021 ohne Vorbedingungen stattgegeben.

Gleichwohl direkte Gespräche generell zu begrüßen sind, waren die Umstände hierfür wenig vorteilhaft für den Führer der freien Welt. Kurz zuvor zwang nämlich der belarusische Diktator Alexander Lukashenko eine Ryanair-Passagiermaschine gewaltsam zur Landung, um einen Regimekritiker zu verhaften.

Gedeckt, wenn nicht sogar aktiv unterstützt, wurde Lukashenko bei dieser neuerlichen Eskalation von Russland. Bekanntlich ist der Kreml schon seit der gefälschten belarusischen Präsidentschaftswahl im August 2020 maßgeblich an den verstärkten Repressionen in der ehemaligen Sowjetrepublik beteiligt. Nachhaltige Ergebnisse brachte das Treffen zwischen Präsident Biden und Putin ebenso nicht mit.  

Den, in den USA überparteilichen, Widerstand gegenüber der Gaspipeline Nord Stream 2, welche Gas direkt von Russland nach Deutschland liefern soll, gab Präsident Biden zudem auf. Zum Wohle der Beziehungen mit Deutschland, wie das Weiße Haus wissen ließ. Die Republikanische Partei nutzt seitdem diese Entscheidung, um Biden als schwachen Präsidenten darzustellen, dessen Entscheidungen einen russischen Einmarsch in die Ukraine wahrscheinlicher machen würden.

Zweifelsohne dürfte Moskau Bidens Kurswechsel als Schwäche ansehen. Diese soll durch verstärkte Sanktionsdrohungen, unter anderem in Form der Einstellung von Nord Stream 2, verdeckt werden. Die russische Wirtschaft würde durch westliche Sanktionen freilich hart getroffen werden. Doch dürfte dies Putin in Bezug auf sein langfristiges Ziel, der Vergrößerung des russischen Einflussgebietes, weitestgehend kalt lassen. Weitere Sanktionen des Westens gegenüber Russland würden den russischen Doppeladler zudem wieder vermehrt gen Asien blicken lassen. 

Die neue deutsche Bundesregierung erwiderte, auf Grund der historisch bedingten ideologischen Nähe der Sozialdemokraten zu Moskau, Bidens ausgestreckte Hand jedoch nicht, konterkarierte die US-amerikanische Position sogar. Nord Stream 2 sollte vom Ukraine-Konflikt ausgeklammert werden, so sozialdemokratische Verantwortliche.

Es solle gar einen „qualifizierten Neuanfang“ in den Beziehungen zu Russland geben, so Bundeskanzler Olaf Scholz. Lieferungen von Defensivwaffen an die Ukraine, wie es die USA und Großbritannien vollziehen, lehnt Deutschland unter dem Vorwand von „historischen Gründen“ ab. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen stehen im Bereich der Sicherheitspolitik vor einer erneuten Belastungsprobe.

Fazit

Wenn Präsident Biden davon spricht, dass die USA wieder auf die Bühne der Weltpolitik zurückgekehrt seien, dann bezieht er sich damit nicht primär auf die Belange in Europa. Präsident Biden versteht darunter die Rückkehr in internationale Organisationen und Abkommen. Wie schon seine Vorgänger Obama und Donald Trump hat auch Präsident Biden kein großes Interesse am alten Kontinent, sein Blick richtet sich gen Pazifik.

Die größten sicherheits-, außen- und handelspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts  sehen die USA nämlich in der kommunistischen Diktatur Chinas. Die Europäer, kritisch bezüglich der strikten US-amerikanischen China-Politik seit der Ära Obama, sind dabei gern gesehene Verbündete, doch oftmals, da insbesondere Berlin mit wenig Weitsicht aufwartet, unangenehmer Balast.

Gleichwohl russische Expansionsbestrebungen als ernstzunehmende Gefahr erkannt werden, ist man sich in Washington D.C. doch sicher, dass Russland eine absteigende Macht darstellt. Mehr Engagement als ursprünglich gewollt müssen die USA auf dem alten Kontinent dennoch erbringen, will man doch nicht, das sich Moskau und Peking zu einer neuen Achse des Bösen vereinen. Sicherheitspolitik in Europa ist vor diesem Hintergrund für die USA mehr denn je nur Mittel zum Zweck. Um hierbei nachhaltigen Erfolg zu erzielen, sollte auch die Biden-Administration verstärkt in die transatlantischen Beziehungen investieren. 

Bildquellen: Creative-Commons-Lizenzen (via Google); The White House; Biden-Transition; eigene Grafiken.

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