Wie Biden die Judikative prägt

Ein wesentliches Merkmal eines jeden Rechtsstaates ist die explizite Teilung der Gewalten. Dementsprechend darf eine Institution weder unterschiedliche Gewaltenfunktionen ausüben, noch darf eine Person mehreren Gewalten gleichzeitig angehören. Während die gesetzgebende Gewalt (Legislative; Parlament) und die ausführende Gewalt (Exekutive; Regierung und Verwaltung) im Fokus der Öffentlichkeit stehen, genießt die rechtsprechende Gewalt (Judikative) oftmals ein Schattendasein.

Lediglich bei Grundsatzentscheidungen auf höchster Ebene, zum Beispiel durch das Bundesverfassungsgericht in Deutschland oder des Supreme Court in den USA, gehören die Schlagzeilen der Judikative, die durch unabhängige Richter ausgeübt wird. Die Bedeutung der richterlichen Gewalt im Staat, deren Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden ist, rückt dabei oftmals in den Hintergrund.

Die Judikative in den USA

Das oberste rechtsprechende Staatsorgan der Vereinigten Staaten ist der Supreme Court mit Sitz in Washington D.C. Dieser ist sogleich auch der einzige Gerichtshof, der in der US-Verfassung explizit Erwähnung findet. Dem Obersten Gerichtshof gehören (gegenwärtig) neun Richter an, die zuvor vom Präsidenten nominiert wurden und nach einer Befragung im Justizausschuss des U.S. Senats die Zustimmung dieser Parlamentskammer erhielten. Verfassungsrichter genießen de facto eine unbegrenzte Amtszeit. In der Regel verhandelt der Supreme Court Berufungsfälle unterer Gerichte, zumeist Streitigkeiten über die Auslegung und Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auf Bundes- oder Staatsebene. 

Eine Ebene unter dem Obersten Gerichtshof befinden sich 13 Appellationsgerichte auf Bundesebene (Federal Courts of Appeals) sowie eine weitere Stufe darunter 95 Distriktgerichte auf Bundesebene (Federal District Courts). Laut der Website der US-Botschaft in Deutschland befassen sich diese Bundesgerichte „mit Fällen, die die Verfassung, das Bundesrecht oder Bundesverträge betreffen. Außerdem sind sie für das Seerecht zuständig sowie für solche Fälle, bei denen ausländische Bürger oder Regierungen oder die amerikanische Bundesregierung selbst Partei sind.“

Präsidenten prägen Judikative

Da US-Präsidenten die Richter auf Bundesebene nominieren, eine Zustimmung des U.S. Senats ist für eine erfolgreiche Bestätigung notwendig, können diese die Ausrichtung der Judikative, Stichwort wortwörtliche versus moderne Auslegung der Verfassung, beeinflussen. Die Präsidentschaft von Donald Trump gilt in diesem Bereich als für die Republikanische Partei als sehr erfolgreich, nominierte dieser doch drei Verfassungsrichter, 54 Appellationsrichter und 174 Distriktrichter erfolgreich. Mitch McConnell, Fraktionsführer der Republikaner im U.S. Senat, bereitete diese legitime „heimliche Revolution“, wie es ZEIT Online schon im Jahr 2017 nannte, jahrelang vor. 

Doch auch der demokratische Präsident Joe Biden ist auf einem guten Weg, die Judikative für die nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, zu prägen. Bis zur parlamentarischen Sommerpause im August diesen Jahres nominierte Präsident Biden gar so viele Richter wie kein anderer Amtsinhaber des Weißen Hauses seit Präsident John F. Kennedy. Laut den Daten des Pew Research Center schlug Präsident Biden insgesamt 75 Bundesrichter erfolgreich vor. Zum gleichen Zeitpunkt ihrer jeweiligen Präsidentschaft kamen Trump auf 51, Barack Obama auf 42, George W. Bush auf 72 und Bill Clinton auf 74 Richter.

Biden diversifiziert die Judikative

Explizit hat Präsident Biden bislang eine Verfassungsrichterin, 18 Appellationsrichter und 57 Distriktrichter durch den U.S. Senat, in dessen Kammer die Demokratische Partei eine hauchdünne Mehrheit besitzt, bringen können. Präsident Biden legt bei den Nominierten großen Wert auf die Stärkung von Gruppen, die bislang in der Judikative unterrepräsentiert sind. Vor diesem Hintergrund sind 76 Prozent aller bisher von Präsident Biden vorgeschlagenen Richter weiblich. Bei Obama lag diese Quote noch bei 50 Prozent, bei Clinton bei 36 Prozent sowie bei den republikanischen Präsidenten Trump bei 29 Prozent und bei Bush bei 22 Prozent. 

Knapp zwei Drittel der von Biden nominierten Richter entstammen einer ethnischen Minderheit – weitaus mehr als bei jedem anderen bisherigen Präsidenten. Von den 75 erfolgreich nominierten Richtern gehören 18 der afroamerikanischen, 13 der hispanischen, zehn der asiatischen und acht sonstigen Minderheiten an. Präsident Biden hält somit sein Wahlversprechen, die Vielfältigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika auch in der Exekutive sowie in wichtigen Positionen der Judikative abzubilden. Die heutige Generation der weißen US-Amerikaner, immerhin gehören dieser Gruppe laut dem Zensus aus dem Jahr 2020 weiterhin mehr als 60 Prozent der Bevölkerung an, gilt derweil in der Ära Biden als Opfer vergangener Missstände.

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Zur besseren Lesbarkeit von Personenbezeichnungen und personenbezogenen Wörtern wird in der Regel die männliche Form genutzt. Diese Begriffe gelten für alle Geschlechter.

HIGH-FIVE mit Hubert Hüppe MdB: „Von Bidens Versprechen, US-Amerikaner zusammenzuführen, ist nichts geblieben!“

Das seit dem Jahr 1973 bestandene landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gehört seit der Entscheidung des Supreme Court im Fall der Abtreibungsgesetzgebung in Mississippi der Geschichte an. Bundesstaaten haben ab sofort das Recht, eigenverantwortlich in dieser Thematik zu entscheiden. Ein Urteil, welches weit über die USA hinaus für Diskussionen sorgte.

Insbesondere aus Deutschland kam es von Seiten vieler Medien und aus der Politik zu Kritik am Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten. Gleichwohl gibt es auch deutsche Stimmen, die sich erfreut über die Stärkung des Lebensschutzes zeigten. Vor diesem Hintergrund führte „1600 Pennsylvania“ nachfolgendes Interview mit dem christdemokratischen Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe.

Als einer von nur wenigen Bundestagsabgeordneten haben Sie sich offen über das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA, die Abtreibungsgesetzgebung den Bundesstaaten zukommen zu lassen und damit das Grundsatzurteil Roe vs. Wade außer Kraft zu setzen, gefreut. Was sind Ihre Beweggründe?

Ich freue mich, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten klargestellt hat, dass die Verfassung der USA kein Recht auf Tötung eines ungeborenen Kindes enthält. Das ist ein großer Sieg für das Recht auf Leben und natürlich auch für die weltweite Pro-Life-Bewegung.

Trotz massiven Drucks der sogenannten Pro-Choice-Anhänger, Anschlägen auf Pro-Life Einrichtungen und sogar einem geplanten Attentat auf Richter Brett Kavanaugh, hatte die deutliche Mehrheit der Richterinnen und Richter des Supreme Court den Mut, das 1973 ausschließlich von Männern gefällte Urteil Roe vs. Wade endlich aufzuheben. Wie im berüchtigten Dred-Scott-Urteil zur Sklaverei hat Roe vs. Wade es bestimmten Menschen erlaubt, anderen ihre Menschenrechte abzusprechen.

Die meisten US-Bundesstaaten weisen weiterhin eine liberalere Abtreibungsgesetzgebung als Deutschland auf. Entgegen dieser Realität wird hierzulande häufig eine “Rückkehr der USA in das Mittelalter” behauptet. Wie erklären Sie sich diesen Unterschied beziehungsweise was hat es damit auf sich?

Viele Staaten der USA haben bereits Gesetze mit denen ungeborene Kinder geschützt werden. Sicher werden jetzt nach dem Urteil weitere folgen. Das ist kein Rückfall in das Mittelalter, sondern die Wiederherstellung der Menschenrechte. Es ist barbarisch, die eigenen Kinder teilweise, wie in einigen Staaten der USA erlaubt, bis zur Geburt zu töten.

Im Übrigen entspricht das jetzige Urteil grundsätzlich auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland. Es hat in der Vergangenheit mehrfach festgestellt, dass auch das ungeborene Kind ein Lebensrecht hat, welches durch den Staat zu schützen ist.

Weder in Deutschland noch in den USA gibt es ein „Recht auf Abtreibung.“ Das ist kein Rückfall ins Mittelalter, sondern Realität moderner Rechtsstaaten, die die Menschenrechte schützen. Das Prinzip der Menschenwürde besagt, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, allein weil er Mensch ist.

Der ZDF-Journalist Elmar Theveßen beschrieb das Abtreibungsurteil mit den Worten der “Talibanisierung Amerikas”. Ihre Entgegnung zu Herrn Theveßen?

Das ist eine unentschuldbare zynische Entgleisung, die ich nur als Hate Speech [Hassrede; Anmerkung des Interviewers] bezeichnen kann. Die Wiederherstellung des Rechts auf Leben mit den Verbrechen der Taliban zu vergleichen, zeigt wie unseriös und tendenziös die Berichterstattung in Deutschland ist. Es ist ein Skandal, dass man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk so eine Hetze verbreiten darf. Leider ist er da nicht allein. In den deutschen Medien wurden auch die Anschläge von Pro-Choice-Sympathisanten kaum erwähnt.

Die deutsche Abtreibungsgesetzgebung ist sicherlich nicht perfekt, kann sie bei solch einem schwierigen und ethischen Thema auch nicht sein. Wäre Ihrer Meinung nach die deutsche Gesetzgebung dennoch ein guter Kompromiss für die USA?

Ich halte die deutsche Gesetzgebung für keinen guten Kompromiss. Es ist diskriminierend, dass in Deutschland ungeborene Kinder mit Behinderungen faktisch bis zur Geburt getötet werden können. Es ist schlicht nicht möglich, zwischen Leben und Tod einen Kompromiss zu finden.

Bei Präsident Joe Biden und den Demokraten sehe ich überhaupt kein Einlenken. Selbst bei Abtreibungen in späten Stadien, wo das Kind außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre, soll es keine Einschränkungen geben. Von dem Versprechen des Präsidenten, das Volk der USA zusammenzuführen, ist nichts geblieben. Er lässt sich da von den Pro-Choice-Hardlinern führen.

Die Bundesregierung hat den Paragraf 219a StGB, das Werbeverbot für Abtreibungen, aufgehoben. Befürchten Sie damit das Öffnen der Büchse der Pandora, sprich den Beginn einer in Deutschland ähnlich stark polarisierten und emotional geführten Debatte wie in den USA?

Die Büchse der Pandora ist schon längst geöffnet. Erschreckend ist nicht nur die jetzt freigegebene Werbung für die Tötung ungeborener Kinder, sondern auch die brutale Argumentation. Die Aufhebung des § 219a StGB war nur Mittel zum Zweck. Wer in der Debatte Familienministerin Lisa Paus gehört hat, weiß, dass sie eigentlich die völlige Freigabe der Abtreibung ohne jegliche Einschränkungen bis zur Geburt will. Und sie war in der Debatte nicht allein.

Von dem Druck, den Männer und Familienangehörige auf Frauen ausüben, ihr Kind abtreiben zu lassen, war nichts zu hören. Ebenso nicht von Hilfen für Frauen in Konfliktsituationen, von der Liebe zum Kind, verantwortungsbewusster Sexualität und Unterstützung von Frauen, die ihr Kind bekommen wollen. Damit beginnt nicht der Kulturkampf, sondern wir sind schon mittendrin: der Kampf der Kultur des Lebens gegen die Kultur des Todes. 

Vielen Dank für das Interview. 

Das Gespräch führte Kai-Uwe Hülss M.A.


Hubert Hüppe ist seit 1974 Mitglied der CDU und seit 2021 Abgeordneter des Deutschen Bundestages. In der aktuellen Legislaturperiode hat er den Vorsitz des Ausschusses für Gesundheit kommissarisch inne. Bereits von 1991 bis 2009 und von 2012 bis 2017 gehörte Hüppe dem Deutschen Bundestag an. Von 2009 bis 2013 amtierte er als Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Hüppe engagiert sich in der Lebensrechtsbewegung und ist seit 1986 stellvertretender Bundesvorsitzender der Christdemokraten für das Leben. 2008 wurde Hüppe das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Weitere Informationen zu Hubert Hüppe gibt es auf seiner Website (Klick hier) und auf Facebook (Klick hier).

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Das Stimmungsbarometer 07/2022: US-Amerikaner haben kaum noch Vertrauen in den Supreme Court

„1600 Pennsylvania“ versorgt euch mit den aktuellsten repräsentativen Umfragen rund um
US-amerikanische Politik (Pfeil nach oben/unten: Wert ist zum Vormonat gestiegen/hat abgenommen). Quellen, falls nicht anders angegeben, sind die RCP-Durchschnittswerte.

 

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Auch Biden wagt das Durchbrechen des Teufelskreislaufs nicht

Das ist ein großer und skandalöser Justizirrtum. Das Volk der Vereinigten Staaten wurde betrogen und unser Land blamiert.

Das eine Ding, welches die Welt destabilisiert hat, ist das skandalöse Verhalten des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten.

Es ist meiner Ansicht nach die Verwirklichung einer extremen Ideologie und ein tragischer Fehler des Obersten Gerichtshofs. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um diesen zutiefst unamerikanischen Angriff zu bekämpfen.

Dass Politiker ihr Bedauern über aus ihrer Sicht unerfreuliche Gerichtsurteile ausdrücken, ist verständlich und menschlich. Dass, wie in obigen Fällen, die Exekutive so offensiv die Judikative, welche in einer gesunden Demokratie eine unabhängige Gewalt darstellt, angreift, stellt jedoch einen ungeheuerlichen Vorgang dar. 

Die erste Stellungnahme stammt vom 45. US-Präsidenten Donald Trump. Auf Twitter kritisierte er einst den Supreme Court, da dieser eine Klage des Bundesstaates Texas gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 abwies. Zweites und drittes Statement wurde vom amtierenden Präsidenten Joe Biden bei einer Pressekonferenz zum Abschluss des NATO-Gipfels in Madrid beziehungsweise aus Washington D.C. geäußert. Bidens Aussagen bezogen sich auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs zum Abtreibungsrecht in den USA, welcher den Bundesstaaten das Recht zur Verabschiedung eigener Gesetze zusprach.

Biden positioniert sich überraschend deutlich

Eigentlich wollte Biden das Land nach der turbulenten Ära Trump „heilen“. Doch von dieser Aufgabe hat sich der 46. US-Präsident offenbar endgültig verabschiedet, hat sich Biden doch an die Spitze der Bewegung für die Wahlfreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur Überlebensfähigkeit des Fötus gestellt. Das vom Supreme Court kassierte Urteil Roe vs. Wade will Präsident Biden gesetzlich verankern. Da dieses Vorhaben wahrscheinlich am Filibuster scheitern würde, ermunterte Biden den U.S. Senat sogar zur Änderung der Abstimmungsregeln.

Das Grundsatzurteil Roe vs. Wade des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1973 legalisierte landesweit Schwangerschaftsabbrüche bis zur Überlebensfähigkeit des Fötus. Dies bedeutete explizit, dass Abtreibungen bis zur 23./24. Schwangerschaftswoche, sprich bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat, in jedem der 50 Bundesstaaten legal waren. 

Doch gegenwärtig gibt es für diesen umstrittenen Vorschlag keine Mehrheit im U.S. Senat, wie auch Präsident Biden anerkennen musste. Demokraten stellen derzeit nur 50 U.S. Senatoren. Zudem lehnen die moderaten demokratischen U.S. Senatoren Krysten Sinema und Joe Manchin eine Regeländerung weiterhin ab.

Unter einem Filibuster versteht man eine Dauerrede (oder gegebenenfalls dessen Androhung) im U.S. Senat zur Verhinderung/Verzögerung von Abstimmungen. Zur Beendung des Filibusters werden die Stimmen von 60 U.S. Senatoren benötigt.

Mit der Abschaffung des Filibusters sehen beide Demokraten die reale Gefahr, dass jeglicher Weg für eine überparteiliche Zusammenarbeit verbaut wäre. Zuletzt gab es beispielsweise einen Kompromiss bei der Verschärfung des Waffenrechts. Senator Manchin sieht im Filibuster gar eine Art der Demokratieverteidigung. Präsident Biden wischte derweil diese Bedenken beiseite und hat als Ziel ausgegeben zwei Senatssitze bei den Wahlen im November hinzugewinnen zu wollen, um die Regeländerung durchbringen zu können. 

Abtreibungsthema als Wählermobilisierung?

Präsident Biden hat sich folglich bei einem ethisch sensiblen Thema wie dem Abtreibungsrecht eindeutig auf eine Seite gestellt. Zwei Gründe waren hierfür sicherlich ausschlaggebend: Einerseits wird Präsident Biden von der eigenen Partei bei dieser Thematik vor sich hergetrieben. Zuletzt wurde von Parteikollegen gar der Druck auf Präsident Biden erhöht, sich auf Grund seines Alters und seines bisherigen unpopulären Auftretens nicht zur Wiederwahl zu stellen. Eine weitere offene Flanke kann sich Präsident Biden innerparteilich schlichtweg nicht erlauben.

Andererseits wird im November ein neuer U.S. Kongress gewählt und bisherige Umfragen sehen wenig vielversprechend für die Demokratische Partei aus. Demokraten erhoffen sich durch das Abtreibungsthema eine Mobilisierung ihrer Kernwählerschaft. Für den Großteil der US-Amerikaner dürften jedoch Themen wie Inflationsbekämpfung und Wirtschaftspolitik von größerer Bedeutung sein. Zumal die Bevölkerung in Bezug auf die Abtreibungsthematik seit Jahrzehnten konstant gespalten ist. 

45 Prozent der US-Amerikaner befürworten das Urteil des Supreme Court zu Abtreibungen, 55 Prozent lehnen die Entscheidung ab. (Harvard CAPS-Harris)

Laut der jährlich durchgeführten repräsentativen Umfrage von Gallup identifizieren sich 49 Prozent der US-Amerikaner als „Pro-Choice“ (Abtreibungsbefürworter) und 47 Prozent der Bevölkerung als „Pro-Life“ (Lebensschützer). Dabei gilt es zu beachten, dass sich die Mehrheit der US-Amerikaner nicht zu Maximalforderungen wie vollkommene Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen oder eines generellen Abtreibungsverbots hingezogen fühlt.

Biden wäre prädestiniert für Mittelweg gewesen

Präsident Biden hätte den Teufelskreis der Polarisierung bei dieser Thematik durchbrechen und sich für einen Mittelweg, den die Mehrheit der US-Amerikaner vorgibt, entscheiden können. Mit seinem bisherigen Werdegang wäre der Katholik Biden, dem auf Grund seiner heutigen Abtreibungsposition sogar schon die Kommunion verweigert wurde, prädestiniert gewesen. Im Verlauf seiner politischen Karriere mutierte Biden nämlich vom Lebensschützer zum (auf Grund des Drucks seiner immer progressiver werdenden Partei?) Abtreibungsbefürworter.

Als neugewählter U.S. Senator vertrat Biden 1973 noch die Auffassung, dass der Supreme Court mit seinem Urteil im Fall Roe vs. Wade zu weit ging. 1982 stimmte der damalige U.S. Senator für einen Verfassungszusatz, welcher das Grundsatzurteil umgehen und den Bundesstaaten das Recht zur Beschränkung der Abtreibungsbestimmungen gegeben hätte. Vor vierzig Jahren scheiterte dieses Vorhaben, das diesjährige Urteil des Obersten Gerichtshofs setzt dies aber nun de facto so um. Heute beschreibt Biden eben dies, und damit sein jüngeres Ich, als die „Verwirklichung einer extremen Ideologie“.

Man braucht jedoch gar nicht so weit zurückzugehen, um Bidens einstigen Einsatz für den Lebensschutz zu unterstreichen. Noch im März 2006 vertrat Biden, auch damals noch als U.S. Senator, seine Pro-Life-Einstellung im Interview mit „Texas Monthly“:

Ich sehe Abtreibung nicht als eine Möglichkeit oder als ein Recht. Ich denke, dass es immer eine Tragödie ist. (…) Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie wir die Anzahl an Abtreibungen vermindern. 

Der Wandel des Joe Biden

Ein Jahr später relativierte Biden erstmals seine jahrzehntelange Position zum Abtreibungsrecht. Im Angesicht seines zweiten Anlaufes auf die demokratische Präsidentschaftskandidatur sah sich Biden offenbar auf Grund des progressiven Kandidaten Barack Obama und der Feministin Hillary Clinton gezwungen, Roe vs. Wade als den „wohl bestmöglichen Kompromiss zwischen Glaube und Freiheit bei einer schwierigen moralischen Frage“ anzusehen. Eine staatliche Finanzierung von Abtreibungen lehnte Biden jedoch weiterhin ab. Bidens Kandidatur scheiterte, zum Vizepräsidentschaftskandidaten wurde er jedoch vom späteren Präsidenten Obama auserkoren.

Als Präsident mimt Biden auf einmal den Vorkämpfer der Abtreibungsbefürworter. Neben der gesetzlichen Verankerung von Roe vs. Wade will Präsident Biden sicherstellen, dass Frauen Zugang zu chemischen Abtreibungspräparaten, zum Beispiel durch Versand, haben. Des Weiteren setzt sich der Präsident für Reisen von Frauen in andere Staaten, in denen Abtreibungen weiterhin liberal(er) gehandhabt werden, ein. Bidens grundlegender Wandel wird derweil von der Republikanischen Partei erfreut für Werbezwecke ausgenutzt (siehe untenstehendes Video).

Die Prophezeiung von Obama, dass Biden der „progressivste Präsident aller Zeiten“ werden würde, bewahrheitet sich infolgedessen schrittweise. Insbesondere bei solch einem ethisch sensiblen Thema wie der Abtreibungsgesetzgebung hätte Präsident Biden die USA jedoch in der politischen und gesellschaftlichen Mitte zusammenführen können. Eine allgemeine Liberalisierung des Abtreibungsrechts bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat ist ebenso wenig fortschrittlich wie ein generelles Abtreibungsverbot. Doch auch im fortgeschrittenen Alter scheinen Biden Partei und Wahlsiege bedeutender zu sein als die Heilung eines gespaltenen Landes.

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Zur besseren Lesbarkeit von Personenbezeichnungen und personenbezogenen Wörtern wird in der Regel die männliche Form genutzt. Diese Begriffe gelten für alle Geschlechter.