Dr. Angela Merkel dachte laut ihrer eigenen Aussage vom Ende her. Olaf Scholz agierte nordisch unterkühlt. Friedrich Merz wartet hingegen mit einer gewissen Impulsivität auf. Markige, teilweise unüberlegte Worte sind ein Markenzeichen des Christdemokraten. Im vergangenen Bundestagswahlkampf kritisierte er beispielsweise die Unterstützung der Bundesregierung für die durch Russland angegriffene Ukraine als nicht ausreichend und äußerte vor diesem Hintergrund deutliche Worte an den russischen Machthaber Vladimir Putin:
Wenn er [Putin; Anm. d. Verf.] nicht innerhalb von 24 Stunden aufhört, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bombardieren, dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland auch Taurus‑Marschflugkörper geliefert werden.
Seitdem ist in der Weltpolitik vieles geschehen. Die CDU/CSU konnte als stärkste Kraft aus der Bundestagswahl 2025 hervorgehen und Merz sich im zweiten Durchgang zum Bundeskanzler wählen lassen. Die russischen Angriffe auf Zivilisten haben sich im Verlauf des Jahres weiter intensiviert – doch die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus an die Ukraine verweigert auch ein Bundeskanzler Merz. Es ist diese rote Linie, die sich durch die bisherige Kanzlerschaft des Sauerländers zieht: Auf forschen Ankündigungen folgen kaum Taten. Innenpolitisch hat dies zu ausbaufähigen Zustimmungswerten des Bundeskanzlers und zu den stärksten Werten der AfD seit Beginn der Umfrageaufzeichnungen geführt.
Sicherheitspolitisch hat diese Unentschlossenheit, die bereits Bundeskanzler Scholz und generell die (West-) Europäer sowie US-Präsident Joe Biden an den Tag legten, die Russische Föderation bei der Verfolgung ihrer imperialistischen Ziele gestärkt. Eine Unentschlossenheit, die Ukrainer mit ihrem Leben bezahlen müssen. Deutschland mag zu den führenden Unterstützern der Ukraine gehören. Doch Berlin könnte ebenso wie Brüssel weitaus mehr für einen nachhaltigen Frieden in Europa, der nur mit einer militärischen Niederlage Moskaus in der Ukraine hergestellt werden kann, unternehmen. Doch das freie Europa verzwergt sich weiterhin hinter den Vereinigten Staaten von Amerika.
Dies ist eine umso fatalere Begebenheit, da seit dem 20.01.2025 mit Donald Trump ein Präsident im Weißen Haus residiert, der mit seiner Politik nicht mehr als Anführer der freien Welt angesehen werden kann. Im völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der mittelfristig die Vernichtung alles Ukrainischen und langfristig die Etablierung einer neuen Weltordnung zum Ziel hat, sieht sich Präsident Trump lediglich als „Mediator“. Eine Position, die den russischen Aggressor begünstigt. Folgerichtig versucht Präsident Trump seit seinem zweiten Amtsantritt Druck auf die Ukraine auszuüben, um den Krieg zu beenden. Dabei ist es einzig und allein Russland, das täglich Kriegsverbrechen begeht und die Ukraine mit Raketen- und Drohnenangriffen überzieht. Alleine Russland kann den Krieg beenden.
Der jüngste von der Trump-Administration erstellte „Friedensplan“, der zwischen Vertretern der USA und Russland ohne Wissen der Ukrainer und der Europäer ausgearbeitet wurde, reiht sich in die Historie der Opfer-Täter-Umkehr von Seiten der USA ein. Der 28-Punkte-Plan sieht nämlich nichts weniger als die de facto Kapitulation einer souveränen Ukraine vor. Explizit beinhaltet der Plan folgende Punkte (Auszug):
- Größe der ukrainischen Streitkräfte wird auf 600.000 Soldaten begrenzt (und damit halbiert)
- Die Ukraine verpflichtet sich, in ihrer Verfassung zu verankern, dass sie der NATO nicht beitreten wird, und die NATO verpflichtet sich, in ihre Satzung eine Bestimmung aufzunehmen, wonach die Ukraine auch in Zukunft nicht aufgenommen wird
- Die NATO verpflichtet sich, keine Truppen in der Ukraine zu stationieren
- Die Ukraine ist berechtigt, der EU beizutreten, und erhält während der Beratungen darüber kurzfristig bevorzugten Zugang zum europäischen Markt
- Russland wird wieder in die Weltwirtschaft integriert
- Es wird eine gemeinsame amerikanisch-russische Arbeitsgruppe zu Sicherheitsfragen eingerichtet, um die Einhaltung aller Bestimmungen dieses Abkommens zu fördern und sicherzustellen
- Die Ukraine verpflichtet sich, gemäß dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ein atomwaffenfreier Staat zu sein
- Das Kernkraftwerk Saporischschja wird unter der Aufsicht der IAEA wieder in Betrieb genommen, und der erzeugte Strom wird zu gleichen Teilen zwischen Russland und der Ukraine aufgeteilt
- Die Oblaste Krim, Luhansk und Donezk werden als de facto russisch anerkannt, auch von den USA
- Die Oblaste Kherson und Saporischschja werden entlang der Kontaktlinie eingefroren, was eine de facto Anerkennung entlang dieser Linie bedeutet
- Die ukrainischen Streitkräfte werden sich aus dem Teil der Oblast Donezk zurückziehen, den sie derzeit kontrollieren, und diese Rückzugsregion wird als neutrale, entmilitarisierte Pufferzone betrachtet, die international als Gebiet der Russischen Föderation anerkannt wird. Russische Streitkräfte werden diese entmilitarisierte Zone nicht betreten
- In der Ukraine werden innerhalb von 100 Tagen Wahlen abgehalten
- Alle an diesem Konflikt beteiligten Parteien erhalten vollständige Amnestie für ihre Handlungen während des Krieges und erklären sich bereit, in Zukunft keine Ansprüche oder Beschwerden zu erheben
- Die Umsetzung der Vereinbarung wird von einem Friedensrat überwacht und garantiert, dem Präsident Trump vorsitzt. Bei Verstößen werden Sanktionen verhängt
Die oben genannten Punkte des sogenannten „Friedensplans“ bestrafen das Opfer, die Ukraine, und belohnen den Aggressor, die Russische Föderation. Neben den grundlegenden negativen Konsequenzen für den Weltfrieden (siehe obige Analyse von Timothy Snyder) würde die Implementierung solch eines Plans die Voraussetzungen für eine erneute und diesmal erfolgreichere russische Invasion der Ukraine schaffen. Ein solcher Diktatfrieden würde keinen nachhaltigen Frieden in Osteuropa mit sich bringen. Vielmehr würde ein noch größerer Krieg in Europa wahrscheinlicher werden, schließlich hat es Russland nicht nur auf die Ukraine, sondern auf das gesamte Einflussgebiet des einstigen Russischen Zarenreichs abgesehen. Die zahlreichen Ansprachen des russischen Machthabers sollten in der freien Welt als reale Warnung verstanden werden.
Die Ukraine steht möglicherweise vor einer sehr schwierigen Entscheidung: Entweder wir verlieren unsere Würde oder wir riskieren den Verlust eines wichtigen Partners. Entweder die schwierigen 28 Punkte oder ein extrem harter Winter – der härteste bisher – mit weiteren Risiken. Ein Leben ohne Freiheit, Würde und Gerechtigkeit, und die Aufforderung, demjenigen zu vertrauen, der uns bereits zweimal angegriffen hat. Sie werden eine Antwort von uns erwarten.
Präsident Volodymir Zelensky in einer Rede an die ukrainische Nation am 21.11.2025.
Der russische Imperialismus wird nicht in der Ukraine Halt machen. Heute ist der Ausfall der USA als Anwalt der freien Welt und das Versagen der Europäer „nur“ in der Ukraine spürbar. Doch schon mittelfristig könnte die russische Aggression von Warschau über Berlin bis nach Paris spürbar sein. Schon heute ist die NATO-Ostflanke, insbesondere in Litauen und Polen, mit dauerhaften hybriden Angriffen von Seiten der Russischen Föderation konfrontiert. Seit Wochen muss der Flugverkehr in der litauischen Hauptstadt Vilnius auf Grund aus Belarus anfliegender russischer Wetterballons eingestellt werden, und Polen ist mit Anschlägen auf sein Eisenbahnsystem konfrontiert.
Es ist an der Zeit, dass politisch Verantwortliche in Europa, insbesondere in Deutschland, ihren Ankündigungen Taten folgen lassen. Es sollte agiert, nicht immer nur reagiert werden. Dazu müsste jedoch zunächst die Lebenswirklichkeit einer anhaltenden sicherheitspolitischen Gefahr durch autoritäre Staaten, neben Russland sei an dieser Stelle die Volksrepublik China genannt, anerkannt werden. Stattdessen liebäugeln Politiker deutscher Regierungsfraktionen schon mit der Wiederaufnahme des Handels mit Russland…

Ein Beitrag von Kai-Uwe Hülss M.A.
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