Wenn es die Ukraine nicht mehr gibt, wird es um Estland, Litauen, Lettland, Georgien und Polen gehen. Sie werden weitermachen bis zur Berliner Mauer.
Der ukrainische Präsident Wolodymir Zelensky wartete in den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit dieser düsteren Prognose auf. Eine Aussage, die den Westen in seinen Bemühungen um verstärkte Unterstützung für den ukrainischen Widerstand motivieren sollte. Es ist jedoch mehr als das, bekräftigt die russische Historie und die Ideologie des russischen Diktators Vladimir Putin genau diese Gefahr.
Putin machte nie einen Hehl ob seiner Ziele
Der renommierte Osteuropahistoriker Karl Schlögel unterstreicht dies mit seiner schon vor Jahren getätigten Aussage, dass Russland erst dann „zu einem wohlhabenden Land [gemacht werden kann], in dem man ganz normal leben kann, (…) man das Imperium und seine Träume hinter sich lassen“ müsste. Putin sieht sich hingegen offen in einer Reihe mit den mächtigen russischen Herrschern, die ihr Volk unterdrückten und expansionistische Ziele hegten.
In den vergangenen 22 Jahren seiner Herrschaft ließ Putin Worte wie Taten sprechen. Im Jahr 2005 artikulierte er den Zerfall der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe“. Zwei Jahre später kritisierte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz die NATO und die Vereinigten Staaten, Russland fühle sich bedroht. Mit dem Krieg in Georgien im Jahr 2008 und der Annexion der Krim sowie des (inoffiziellen) Einmarsches in den Donbas im Jahr 2014 ließt Putin Taten sprechen. Die russische Invasion der Ukraine ist für die Zielerreichung Putins somit nur folgerichtig.
Ungewollte Herausforderung für Präsident Biden
US-Präsident Joe Biden sieht sich nach dem Abzugsdesaster aus Afghanistan einer weiteren sicherheitspolitischen Herausforderung konfrontiert, die er so freilich nie anstrebte. Vielmehr wollte Präsident Biden nach den vier turbulenten Jahren eines Präsidenten Donald Trump die US-amerikanische Demokratie konsolidieren, die Vereinigten Staaten in ihrem Inneren stärken. Außenpolitisch sollte der Blick nach Asien gerichtet werden, um die aufkommende Supermacht China einzuhegen. Doch auch im Jahr 2022 muss Washington D.C. die Führung auf dem alten Kontinent während einer akuten Krisensituation übernehmen.
Dabei ist die Ukraine ein Land, welches Präsident Biden in seinem Bestreben nach Stärkung demokratischer politischer Systeme und Gesellschaften, im vergangenen Jahr war er beispielsweise auch Gastgeber eines internationalen Demokratiegipfels, sicherlich als vorbildlich erscheint. Schließlich entschieden sich spätestens im Jahr 2014 die Ukrainer für einen demokratischen Neuanfang, für ein Leben in Freiheit ohne Abhängigkeit vom expansionswilligen Kreml. Doch dieser, siehe oben, hatte andere Pläne für die Ukraine, dessen Recht auf Eigenstaatlichkeit Putin erst kürzlich absprach.
Appeasement ist in Europa erneut gescheitert
Ob die freie, westliche Welt unter Führung der USA die russischen Expansionsbestrebungen unterschätzte, werden Historiker zu beurteilen wissen. Die osteuropäischen NATO-Mitgliedsstaaten haben ebenso wie die Ukraine schon seit Jahren vor dem jetzt eingetretenen Kriegsszenario gewarnt. Nur ernsthaft gehört wurden diese Befürchtungen weder in Washington D.C. noch in Berlin oder Paris.
Diplomatie ohne ernstzunehmende politische Macht und Abschreckungsbereitschaft zählt bei Putin gar nichts (Jörg Himmelreich, Politikwissenschaftler).
US-Präsident Biden versuchte indes in seinem ersten Amtsjahr Putin rhetorisch hart entgegenzutreten. Dass er Putin einen „Mörder“ nannte, soll an dieser Stelle als Exempel genügen. Doch Putin tangieren Worte wenig, der ehemalige KGB-Agent beurteilt Taten. Diese sahen unter Präsident Biden eine Appeasement-Politik gegenüber dem Kreml vor. Treffen ohne Vorbedingungen sowie eine Aufgabe der Gegenwehr zur Gaspipeline Nord Stream 2 ließen das Weiße Haus aus Sicht des Kremls als schwach erscheinen.
Fatale politische Kommunikation
Einen weiteren Fehler taktischer Natur beging Präsident Biden schon im vergangenen Jahr, als er der Ukraine öffentlich keine Sicherheitsgarantien ausstellte. Dies entsprach zwar der Wahrheit, da die Ukraine kein Mitglied der NATO ist und somit keinen Anspruch auf Hilfe des Verteidigungsbündnis genießt. Für die Kommunikation nach außen wäre es jedoch smarter gewesen den russischen Diktator Putin im Ungewissen zu lassen. Die Geschichte des Kalten Krieges zeigte bekanntlich eindrücklich, dass Frieden in Europa durch Abschreckung gewahrt werden kann.
Während sich der Westen an Regeln und Verträge hält wie es sich für zivilisierte Länder gehört, gilt für Putin nur das Prinzip der Macht des Stärkeren. Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine verstößt er zudem nicht nur gegen das Minsker Abkommen, sondern auch gegen den Atomwaffensperrvertrag von 1994. Darin gab die Ukraine die in ihrem Land stationierten sowjetischen Atomwaffen an Russland ab. Im Gegenzug garantierten die USA, Großbritannien und Russland die Selbständigkeit der Ukraine und verpflichteten sich darauf diese weder anzugreifen noch durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen unter Druck zu setzen. Die USA hätten also auch formal für die Sicherheit des souveränen Staates der Ukraine einstehen können.
Einsatz für die Freiheit
Die ukrainische Armee wie Zivilisten stellen sich derweil erbittert gegen den russischen Vernichtungsfeldzug. Nahezu die gesamte Welt zeigt sich solidarisch mit dem freiheitsliebenden Volk der Ukraine. Unter Führung der USA lässt der Westen der Ukraine massive militärische und humanitäre Hilfe zukommen. Doch gegenüber der russischen Übermacht ist dies immer noch nicht genug. Die Verzweiflungsrufe des ukrainischen Präsidenten Zelensky nahmen infolgedessen in den vergangenen Tagen verständlicherweise weiter zu.
Die Forderung nach der Einrichtung einer Flugverbotszone, die auch schon manche Mitglieder des U.S. Kongresses vorbrachten, lehnt Präsident Biden ab. Eine direkte Konfrontation mit Russland soll vermieden werden. Aus gutem Grund, könnte dies doch eine Ausweitung des Krieges oder gar einen Nuklearkrieg bedeuten. Dennoch kann das Weiße Haus noch mehr für den Freiheitskampf der Ukrainer unternehmen.
74 Prozent der US-Amerikaner fordern laut Reuters die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine.
Neben verstärkten Lieferungen von Flugabwehrraketen, die unter anderem U.S. Senator Ted Cruz forderte, richtet sich der Blick auch auf vermehrte Luftunterstützung. Polen war beispielsweise zunächst dazu bereit seine MiG-29 Kampfjets für die Ukraine zur Verfügung zu stellen, sofern die USA Sicherheitsgarantien für Warschau übernehmen. Das Weiße Haus gab sich lange zögerlich, am Sonntag gab die US-Administration laut Außenminister Antony Blinken dafür grünes Licht, jedoch ohne dabei konkreter zu werden. Eine weitere Überlegung ist US-amerikanische Flugzeuge für die ukrainische Armee zur Verfügung zu stellen. Die demokratische Abgeordnete und Veteranin Chrissy Houlahan forderte Präsident Biden kürzlich hierzu auf.
Vor diesem Hintergrund sollte nach einer Gefahrenabwägung auch über die Einrichtung einer 100 Kilometer breiten humanitären Zone in der Westukraine schnellstmöglich nachgedacht werden. Die Luftwaffen Polens, Rumäniens und der Slowakei könnten Luftpatrouillen durchführen, die USA wiederum übernehmen die Sicherheitsgarantien dieser Länder. Eine humanitäre Zone würde die Moral der Ukrainer stärken, einen Schutzraum für Vertriebene sowie einen Rückzugsraum für die ukrainische Armee auf eigenem Territorium bieten.
Neben diesen unmittelbaren weiteren Hilfen für die Ukraine sind die Wirtschaftssanktionen des Westens gegenüber Russland noch nicht ausgeschöpft. Bislang sind beispielsweise noch nicht alle russischen Banken vom internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen worden. Präsident Biden streubt sich zudem bislang aus wahlkampftaktischen Gründen gegen ein Öl- und Gas-Embargo. Auf Grund daraus folgender höherer Benzinpreise fürchtet Präsident Biden hohe Verluste bei den Zwischenwahlen im November (Update 08.03.2022: USA verhängen Importstopp von russischem Erdöl und weiteren Energieträgern).
Doch im Kampf um Demokratie und Freiheit sollte eine verlorene Wahl zweitrangig sein. Es ist an der Zeit für den Westen zu realisieren, dass Putin die Europäische Union und die NATO spalten, ja möglichst zerstören will. Ist sich die freie Welt unter Führung von Präsident Biden dieser historischen Gefahr bewusst? Der ukrainische Präsident Zelensky äußerte diesbezüglich, dass nach dem Fall der Ukraine – mittelfristig – weitere europäische Länder auf der Liste des Herrschers im Kreml stehen würden. Vor diesem Hintergrund fand Johannes Boie, Chefredakteur der BILD-Zeitung, die folgenden treffenden Worte:
Das Berlin von heute heißt Kiew. Die Völker der Welt müssen auf diese Stadt schauen. Dort wird unsere Freiheit verteidigt. Dort stemmen sich Demokratie und Freiheit gegen die Diktatur Wladimir Putins.
Das ukrainische Volk, direkt angegriffen, ist sich dem freilich bewusst. Die westliche, freie Welt muss sich nun die Frage stellen, was ihr die Verteidigung der Freiheit wert ist. Eine Antwort sollte nicht so lange auf sich warten lassen. Weder bleibt der Ukraine viel Zeit, noch wird das transatlantische Bündnis auf ewig so geeint sein wie in diesen Tagen des größten Krieges in Europa seit 1945.
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