Personen, die an einem Glioblastom leiden, haben eine durchschnittliche restliche Lebenszeit von 15 Monaten. Mit Behandlung wohlgemerkt. Beau Biden, Sohn von Präsident Joe Biden, starb auf Grund eines solchen bei ihm diagnostizierten bösartigen Gehirntumors im Alter von 46 Jahren. Auch der einstige langjährige U.S. Senator John McCain erkrankte und starb daran.
Doch der Vietnamveteran blieb ein Kämpfer bis zu seiner letzten Stunde. Nur eine Woche nach einer Gehirnoperation betrat McCain wieder den Sitzungssaal des U.S. Senats, um an einer Abstimmung zur Abschaffung des Affordable Care Acts teilzunehmen. McCain hatte die entscheidende Stimme inne. Er senkte öffentlichkeitswirksam den Daumen.
Erst der Staat, dann die Partei
McCain stimmte gegen den Gesetzesvorschlag seiner eigenen Republikanischen Partei. Die Gesundheitsreform des ehemaligen Präsidenten Barack Obama war gerettet. The Maverick, der Einzelkämpfer, machte seinem Spitznamen wieder einmal alle Ehre. Generell scheint es im Bundesstaat Arizona an Freigeistern, an selbst und kritisch denkenden Personen, nicht zu mangeln.
In den USA gibt es keine Parteimitgliedschaft oder Parteiorganisation wie dies in Deutschland der Fall ist. Vielmehr kann man seine Parteipräferenz registrieren lassen.
Der ehemalige republikanische U.S. Senator Jeff Flake galt als größter innerparteilicher Widersacher des damaligen Präsidenten Donald Trump. Kyrsten Sinema wiederum, die auf Flake folgte, ist eine der letzten moderaten Stimmen am Capitol Hill. Am 09. Dezember 2022 löste U.S. Senatorin Sinema zudem ein politisches Erdbeben in Washington D.C. aus, als sie bekanntgab die Demokratische Partei verlassen und sich als Unabhängige registriert zu haben.
Kaum Konsequenzen für faktische Mehrheitsverhältnisse
In der am 03. Januar 2023 beginnenden neuen Legislaturperiode werden Republikaner somit 49 und Demokraten 48 Abgeordnete in den U.S. Senat entsenden. Mit Agnus King, Bernie Sanders und Sinema werden fortan drei U.S. Senatoren keiner Partei angehören, jedoch mehrheitlich mit der Demokratischen Senatsfraktion abstimmen. Sinema dürfte auch ihre Positionen in den Ausschüssen, wie auch King und Sanders, behalten. An den faktischen Mehrheitsverhältnissen dürfte sich durch Sinemas wechselnde Parteipräferenz somit wenig verändern.
In der vergangenen Legislaturperiode stimmte Sinema laut einer Erhebung von FiveThirtyEight 93 Prozent aller von Präsident Biden beziehungsweise der Demokratischen Fraktion im U.S. Senat vorgeschlagenen Gesetzen zu. Dies ist innerhalb der Demokratischen Fraktion ein vergleichsweise geringer Wert, für Sinemas zukünftige Rolle als Unabhängige jedoch für Präsident Biden nicht beunruhigend. Insbesondere bei zustimmungspflichtigen Personalentscheidungen hat das Weiße Haus keine neue, zusätzliche Herausforderung durch Sinemas Entscheidung zu fürchten.
Sinema entschied schon in den letzten Jahren unabhängig
Schließlich bewies Sinema schon als registrierte Demokratin ihre Unabhängigkeit. Die Einführung eines von progressiven Demokraten geforderten Mindestlohns in Höhe von $15/Stunde verhinderte Sinema, von ihrer Ablehnung gegenüber der Abschaffung des Filibusters rückte sie trotz Kritik von linken Demokraten nie ab und gegen die aus ihrer Sicht zu teuren Investitionsprogramme stellte sie sich quer.
Die Bevölkerung von Arizona hat mich als unabhängige Stimme nach D.C. geschickt.
U.S. Senatorin Kyrsten Sinema (I)
Dass Sinema in solchen bedeutenden Fragen eine andere Meinung als ihre ehemaligen Parteikollegen einnahm, überrascht nicht. Da sie einen bis vor kurzem republikanisch wählenden Bundesstaat vertritt, der mittlerweile zu einem Swing State mutiert ist, muss Sinema auch die Sorgen der konservativen Wählerschaft adressieren.
Sinemas Schritt ist konsequent
In den vergangenen Jahrzehnten nahm die politische Polarisierung in den USA bekanntlich kontinuierlich zu. Laut dem Pew Research Center entfernen sich beide Parteien seit Jahrzehnten von der Mitte. Demokraten sind mehr nach links, Republikaner viel mehr nach rechts gerückt. Folglich gibt es nur noch rund zwei Dutzend moderate Republikaner und Demokraten im U.S. Kongress. Sinema ist eine davon.
Sinema wird infolgedessen nicht müde zu betonen, dass es Politiker benötigt, die überparteilich zusammenarbeiten, um Lösungen zur Verbesserung der Lebensstandards von US-Amerikanern zu finden. Schon im Jahr 2009 verfasste sie mit „Unite and Conquer: How to Build Coalitions That Win and Last“ ein Buch, welches sich mit diesem Thema befasste. The Arizona Republic sprach sich zudem 2018 für Sinemas Senatskandidatur wegen ihres überparteilichen Ansatzes aus.
Wenn Politiker mehr darauf konzentriert sind der oppositionellen Partei einen Sieg zu verwehren anstatt das Leben der Amerikaner zu verbessern, dann verlieren alle Amerikaner.
U.S. Senatorin Kyrsten Sinema (I)
Der ebenso zentristisch agierende demokratische U.S. Senator Joe Manchin gilt Sinema als Vorbild. Gemeinsam haben sie in den vergangenen Jahren den legislativen Prozess, siehe Beispiele oben im Text, entscheidend geprägt. Als Demokratin gehörte sie noch der Blue Dog Coalition, einem Bündnis von finanzpolitisch konservativ eingestellten Parteikollegen, an. Eine lose Organisation, die von Links immer weiter unter Bedrängnis gerät.
Sinema tritt als klassische U.S. Senatorin auf
Es fällt zunehmend schwer, so Sinema, die eigene Meinung und die spezifischen Werte des eigenen Bundesstaates zu vertreten. „In beiden Parteien“, betont Sinema in ihrem Interview mit CNN. Das Abstimmungsverhalten ihrer Kollegen unterstreicht ihre These.
Laut FiveThirtyEight haben in den vergangenen zwei Jahren acht Demokraten mit allen Gesetzentwürfen der Parteiführung übereingestimmt. Weitere zwanzig Demokraten stimmten 98 Prozent aller von der eigenen Partei eingebrachten Gesetze zu. Das sind mehr als die Hälfte aller demokratischer Senatoren.
Ein gewichtiger Bezugspunkt für das Abstimmungsverhalten eines amerikanischen Abgeordneten bildet auch heute noch – trotz der wachsenden Bedeutung der Fraktionssolidarität – die von ihm perzipierte Meinung der ihm und seiner Partei nahestehenden Wählerschaft in seinem eigenen Wahlkreis.
Emil Hübner: Das politische System der USA, S. 122
Sinema will aber nicht „blind einer Partei folgen, ohne nachzudenken“. Die Wählerschaft dürfte ihr Recht geben, sind doch nur 24,8 Prozent aller US-Amerikaner laut den auf Real Clear Politics publizierten durchschnittlichen repräsentativen Umfragewerten der wichtigsten Institute mit der Arbeit des U.S. Kongresses zufrieden.
Ein Grund hierfür ist die steigende Homogenität der jeweiligen Fraktionen. Konservative Demokraten und liberale Republikaner gelten mittlerweile als nahezu ausgestorbene Spezies. Vor diesen Hintergründen ist Sinemas Entscheidung, sich als unabhängig zu registrieren, nicht nur ein belebendes Element für die US-Demokratie, sondern dürfte auch ihren eigenen Wiederwahlinteressen geschuldet sein.
Eine neue Partei bietet sich als Plattform für Unabhängige an
Für einen unabhängigen Kopf wie Sinema gibt es übrigens seit diesem Jahr mit der Forward Party auch eine neue moderate Partei, die von ehemaligen Demokraten, Republikanern und Unabhängigen ins Leben gerufen wurde. Sinema und die Forward Party teilen die Ansicht, dass die USA unter einem „kaputten Parteiensystem“ leiden. Sich dieser neuen politischen Kraft anzuschließen würde jedoch einen noch größeren Mut von Sinema erfordern als dies ohnehin schon mit ihrer Registrierung als unabhängige Politikerin der Fall war.
Solch ein Schritt würde nämlich einer wahren Revolution im Zwei-Parteien-System der USA gleichen. Zuzutrauen wäre es der Politikerin aus dem Staat der Freigeister zwar allemal. Andere moderate Senatoren beider Parteien könnten sodann Sinemas Beispiel leichter folgen. Die immer extremer werdenden Parteien der Demokraten und insbesondere der Republikaner könnten hierdurch im legislativen Prozess besser im Zaum gehalten werden. Doch die Wahrscheinlichkeit für solch ein Szenario dürfte ähnlich niedrig liegen wie die Überlebenschancen bei der Diagnose Glioblastom.
Bildquellen: Creative-Commons-Lizenzen (via Google); Canva.com; eigene Grafiken.
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Ein Gedanke zu “Sinema erhebt sich gegen das „kaputte Parteiensystem“”
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